Unter den Bildern, die Süddeutsche Zeitung Photo seit nun 60 Jahren vertreibt, finden sich einige weltberühmte Fotos. In unserem Blog präsentieren wir für Sie unsere großen Bildikonen und ihre Hintergründe.
Der jüdische Anwalt Siegel wird von SA und SS am 10. März 1933 durch die Prielmayerstraße in der Nähe des Münchner Hauptbahnhofs getrieben © Heinrich Sanden/Scherl
Das Bild des jüdischen Anwalts Dr. Michael Siegel, der am 10. März 1933 von der SS und SA durch die Münchner Innenstadt getrieben und öffentlich gedemütigt wurde, ist weltberühmt. Unzählige Male wurde es in Schullehrbüchern und Ausstellungen abgebildet. Das Foto gilt weltweit als Dokument und Symbol für den Terror und die Willkür des Nazi-Regimes.
Siegel wollte sich an besagtem Tag im Auftrag eines Mandanten im Polizeipräsidium gegen Übergriffe der SA beschweren. Dort wurde der Anwalt von der SA-Schergen in einem Kellerraum brutal zusammengeschlagen. Ihm wurden Zähne ausgetreten, sein Trommelfell platzte. Anschließend jagten die Peiniger Siegel mit zerschnittener Hose, barfuß und blutend mit einem Schild um den Hals von der Ettstraße über den Stachus in die Prielmayerstraße am Münchner Hauptbahnhof. ‘Ich werde mich nie mehr bei der Polizei beschweren’, so ist es heute auf dem Schild zu lesen.
Der damals arbeitslose Pressefotograf Heinrich Sanden gilt als Urheber dieses und eines weiteren, am Stachus entstandenen Fotos des Schandspiels. Während die Münchner Zeitungen 1933 noch keine Veröffentlichung von Sandens “heißer Ware” wagten, kam es im Ausland zu einigen Abdrucken der Aufnahme, jedoch kursierten verschiedene Versionen. Sie alle unterschieden sich im Wortlaut der Schrift auf dem Schild. Auf den unbehandelten Originalabzügen war diese kaum leserlich und wurde in den Redaktionen abweichend nachbearbeitet. Weil die Schrift auf dem Schild offensichtlich nachretuschiert worden war, gab es in der Vergangenheit Zweifel an der Echtheit des Fotos. Die Geschichte vom Weg des Fotos in das Bildarchiv der SZ konnte hier etwas Aufklärung verschaffen.
Das zweite – ebenfalls retuschierte – Bild der Spießrutenhetze entstand am Stachus © Heinrich Sanden/Scherl
Zwar sahen auch die Münchner Neuesten Nachrichten 1933 vom Abdruck des Bildes ab, im Bildarchiv des Verlagshauses Knorr & Hirth wurde der Abzug jedoch aufbewahrt – und blieb dort, bis das Archiv nach dem Krieg von der SZ übernommen wurde. Ulrich Frodien, der ab 1954 das Bildarchiv der SZ und ab 1956 den SV-Bilderdienst leitete, sagte aus, er habe nach der Wiederentdeckung des wertvollen Fotos lediglich die Anweisung an die Reproduktionsabteilung gegeben, die unleserlichen Buchstaben auf dem Foto nachzuzeichnen. Der Originaltext sei aber eindeutig entziffert worden: ‘Ich werde mich nie mehr bei der Polizei beschweren’. Auch in den Scherl-Bildern, die das SZ-Bildarchiv Mitte der 50er Jahre erwarb, ist ein Abzug der Sanden-Aufnahme dabei – mit gleichlautendem, retuschiertem Text in etwas anderer Schrift. Dass Scherl und SZ unabhängig voneinander die gleichen Worte nachretuschiert haben, ist ein starkes Indiz für die Authentizität des Textes. Es sind diese vom SV-Bilderdienst ab 1956 verbreiteten Versionen des Bildes, die nun auch in Deutschland vielfach abgedruckt und weltberühmt wurden.
Für Siegel und seine Familie war der 10. März 1933 der Anfang vom Ende ihres Lebens in Deutschland. 1940 emigrierte Siegel mit seiner Frau über Sibirien und China nach Peru. In Lima arbeitete er als Farmer und Rabbiner der jüdischen Emigrantengemeinde und wurde 1946 Vertrauensanwalt der Bundesrepublik in Lima. 1945 wäre er gerne nach München zurückgekehrt, wo ihm eine Richterstelle angeboten wurde, verzichtete aber auf Wunsch seiner Frau darauf. Dr. Michael Siegel starb 1979 hochbetagt in der peruanischen Hauptstadt.
Das Bild des Anwalts Siegel aber lebt weiter. Es hängt in Erinnerungsstätten wie Yad Vashem oder im NS-Dokumentationszentrum in München. Die Ikone ist und bleibt ein wichtiges Mahnmal gegen den NS-Terror und Teil des kollektiven kulturellen Gedächtnisses.
Zu den Bildern vom 10. März 1933 in der Datenbank
Als weitere Bilder in unserer kleinen Serie “SZ Photo Ikonen” präsentieren wir u.a. die Verweigerung des Hitlergrußes (ID
) und das K1-Foto von Thomas Hesterberg (ID ) .